Politik
Tagblatt-Turm am Hauptbahnhof - Symbol für Stuttgart: Sind seine Tage gezählt?
Stocker, Gangolf:
Die Stadt gehört uns – Kein Stuttgart 21
Bezeichnen wir Stuttgart mal als Großstadt, und gehen wir weiter davon aus, dass in einer Großstadt die Interessen der Menschen und die Einwirkungen von Außen vielfältiger, die Spaßangebote und Ablenkungsmechanismen größer, und daher die Chancen, auf ein Anliegen aufmerksam zu machen, wesentlich kleiner sind als in einer Kleinstadt. So sind z.B. Bürgerbegehren/Bürgerentscheide in einer Großstadt unendlich schwieriger zum Erfolg zu führen, als in einer kleinen Gemeinde. Und es ist ein Irrtum zu glauben, mehr Einwohner machen automatisch mehr Interessierte an diesem oder jenem, an der Entwicklung der Kommune zum Beispiel. Im Gegenteil: Das Verbleiben im Privaten ist in einer Großstadt stärker ausgeprägt, und damit meine ich auch das Untergehen in der Anonymität bei so genannten „Events“. Das Gefühl des Großstadtmenschen ist das Gefühl des „Kleinen Mannes“. Im Dorf käme niemand dazu, sich als „Kleiner Mann“ zu fühlen. Wenn also fünftausend Menschen zusammen kommen, dann muss der Grund dazu ein außerordentlicher sein. Etwas, was sie aus dem Privaten heraus treibt ins Öffentliche. Eine unheimliche Wut, ein Zorn. Und dieser war deutlich zu spüren gewesen.
Bereits Wochen zuvor – darauf angesprochen am Infostand der Bürgerinitiative – versprachen die Menschen hoch und heilig „Mir kommet!“. Und hielten Wort.
Beide Stuttgarter Zeitungen , fest liiert mit der Mafia aus Bauindustrie, Banken und Politik, also den Profiteuren von Stuttgart 21, mussten den Hinweis auf die geplante Kundgebung bringen. Eine brachte diesen Hinweis erst am Morgen des 24. September, wohl in der Hoffnung, dass die LeserInnen das erst auf der Heimfahrt oder beim Abendessen lesen. Was machten die Leute von der Initiative, ach was, an die Hundert Aktive, diese vornehme Zurückhaltung der Presse ahnend? Sie griffen zu einem heutzutage mittelalterlichen Verkündigungsmittel: Sie schrieben die Bürgersteige und Plätze der ganzen Stadt voll mit „Kundgebung gegen Stuttgart 21, 24. September, 18:30 Uhr, Marktplatz“. Mit bunter Kinderkreide. Die Menschen blieben stehen, lasen, was die Leute da schreiben bzw. geschrieben hatten . Und sie kamen.
Und noch andere kamen. Stelzenläuferinnen zum Beispiel, bunt verkleidet und mit Protestschildern gegen Stuttgart 21. Oder der DUNDU, eine 4 Meter große Marionette, die mit den Stelzenläuferinnen auf der Stuttgarter Kommerzstraße, der Königsstraße, die Leute auf die Kundgebung aufmerksam und dann die Kundgebung richtig bunt machten.
Oder die Redner: Peter Conradi, SPD-Urgestein und heftiger Fehde zu seiner Partei liegend, dito Nik Sarkellariou, SPD-MdL und Vorsitzender der Naturfreunde Baden-Württembergs. Natürlich auch Winne Hermann von den Grünen. Und Hans-Dieter Reichert, bekannt als „dr Bruddler“ vom SDR mit einer schwäbischen Einlage, die auch die Nichtschwaben zu Konvertiten machte. Es war eine „festliche“ Stimmung, eine gelöste, eine gute.
Plötzlich war aber auch Druck in der Geschichte. Eine Woche später war Gemeinderatssitzung zum Thema Stuttgart 21. Wieder kamen Menschen auf den Marktplatz und bildeten ein „Kein S21“. Anschließend gingen sie zur Gemeinderatssitzung, saßen den Herren und Damen Räten fast auf dem Schoß, oben, auf der Zuhörertribüne ging nichts mehr rein, so gingen die Leute unten rein, hockten sich hinter und neben die Gemeinderäte. Und kommentierten, klatschten, buhten. Und bekamen ein Lehrstück parlamentarischer Demokratie mit. Sie bekamen gnadenlose Ignoranz und Dummheit derer vorgeführt, die vorgaben in ihrem Namen zu sprechen, „ihre“ Volksvertreter und Volksvertreterinnen. Der Zorn wurde nicht kleiner, die Wut wurde größer.
Nach 15 Tagen haben bereits über 10.000 Stuttgarterinnen und Stuttgarter das Bürgerbegehren gegen Stuttgart 21 unterschrieben. Notwendig für einen Bürgerentscheid sind 20.000. Die Initiatoren überlegen aber, die Sammlung von Unterschriften einfach weiter zu führen, sozusagen aus dem Bürgerbegehren gleich einen Bürgerentscheid zu machen. Denn es ist absehbar, dass die Gemeinderatsmehrheit sich aus irgendwelchen formaljuristischen Gründen weigern wird, den Bürgerentscheid durchzuführen. Das haben nämlich jetzt alle begriffen, und man hat es den Stuttgarter BürgerInnen deutlich gesagt: Ihre Meinung ist der Rathausspitze und der Gemeinderatsmehrheit egal.
Stuttgart 21 hat die Stadt verändert. War das Wissen über dieses Projekt in der Bevölkerung anfangs minimal, waren die Meinungen dazu anfangs noch gespalten, so nahm das Wissen um die Kritik an diesem Projekt zu, und zwar trotz zeitweise täglicher Propaganda-Breitseiten in den Medien. Und die Stimmung kippte. Vom „Jahrhundertprojekt“ mutierte Stuttgart 21 zur Lachnummer („Kommt ja doch nie“) und - nachdem Oettinger sich von Bund und Bahn die Landeskasse leeren lies und die Profiteure im Juli obsiegten – dann zur Bedrohung. Und zum Gegenstand der Betrachtung: Wie steht’s mit der kommunalen Demokratie? Hat die Bevölkerung etwas zu sagen oder nicht? Ist sie bereit, sich zu wehren? Und siehe da, sie ist.
Stuttgart 21 hat die Stimmung in der Landeshauptstadt verändert. Es gibt immer noch Menschen, die fragen: „Meinen Sie, das Ganze hat noch einen Wert, wo die da oben ja doch machen, was sie wollen?“ Aber immer weniger interessiert dies nicht mehr. Sie wollen einfach „denen da oben“ ihre Meinung sagen. Und natürlich gibt es immer noch auch welche, die Stuttgart 21 trendy, cool, modern finden.
Aber es könnte sein, dass die Menschen in zwanzig Jahren sagen, das mit der Demokratiebewegung in Stuttgart, das hat damals angefangen mit Stuttgart 21. Auf dem Button, den die Stuttgart 21-GegnerInnen tragen, steht „Die Stadt gehört uns – Kein Stuttgart 21“
Gangolf Stocker, Sprecher der Initiative „Leben in Stuttgart – kein Stuttgart 21“
30.12.2007
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