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Leserbriefe

76. Jahrestag der Befreiung der Niederlande von der NS-Herrschaft

Bild:

Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Nationalen Befreiungstags der Niederlande am 5. Mai 2021 (Videokonferenz)


Mittwoch, 5. Mai 2021

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Mark,
sehr geehrte Frau Verbeet,
sehr geehrter Herr Smit,
sehr geehrter Herr Bürgermeister van Zanen,
sehr geehrte Damen und Herren,

es ist mir eine außerordentliche Ehre, am niederländischen Befreiungstag zu Ihnen zu sprechen. Ich bin sehr dankbar für die Einladung, die ich auch als besonderes Zeichen der Freundschaft zwischen den Niederlanden und Deutschland erachte. Ich wäre gerne schon im letzten Jahr nach Den Haag gekommen, aber die Coronavirus-Pandemie ließ das leider nicht zu. Dasselbe gilt nun auch für dieses Jahr. Umso wichtiger ist es mir, zumindest auf diese Weise diesen besonderen Tag gemeinsam mit Ihnen zu begehen - mit Demut und Dankbarkeit für die große Geste Ihrer Einladung.

Vor 76 Jahren, am 5. Mai 1945, wurden die Niederlande von der deutschen Besatzung befreit. Eine Feststellung, so kurz und knapp und doch so bedeutungsschwer. Denn sie beschreibt nichts weniger als das lang ersehnte Ende der Verbrechen, die Deutschland während des Nationalsozialismus an den Menschen Ihres Landes verübt hat. Unter der deutschen Besatzung von 1940 bis 1945 wurden drei Viertel aller jüdischen Männer, Frauen und Kinder in den Niederlanden ermordet - drei Viertel, so viele wie in keinem anderen Land Westeuropas. Über 200.000 Todesopfer insgesamt hatten die Niederlande zu beklagen. Mehr als 600.000 Niederländer wurden zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt. Die Innenstadt Rotterdams wurde im Bombenhagel völlig zerstört. Und im letzten Kriegswinter fielen viele Tausende Menschen einer Hungersnot zum Opfer.

Denken müssen wir auch an das unermessliche Leid, das die Menschen etwa im Durchgangslager Westerbork ertragen mussten, die von dort aus in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden. Sehr geehrte Frau Weyl, als Zeitzeugin wissen Sie um die Qualen, die die Menschen in diesem Lager durchlitten haben und die Sie als junges Mädchen verkraften mussten. Heute erzählen Sie Schülerinnen und Schülern von Ihren Erfahrungen. Das ist in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen. Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen dafür, dass Sie die Kraft dafür aufbringen.

Ebenfalls in Westerbork war auch Anne Frank. Wer ihre Tagebucheinträge aus der Prinsengracht 263 liest, die darin zum Ausdruck kommenden Ängste und Hoffnungen eines jüdischen Mädchens unter deutscher Besatzung, der ist zutiefst erschüttert.

Nichts kann die Lücken füllen, die die Ermordeten hinterlassen haben. Nichts kann den Überlebenden den Verlust und den Schmerz nehmen. Die begangenen Verbrechen verjähren nicht. Die Erinnerung daran wachzuhalten, ist immerwährende Verantwortung Deutschlands. In Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar." Dieser Satz ist die zentrale Antwort auf die Verbrechen Deutschlands im Nationalsozialismus - die Antwort darauf, dass Menschen ihr Menschsein abgesprochen wurde.

Viele Niederländer lehnten sich gegen die Menschenverachtung der deutschen Besatzer auf wie etwa während der großen Streiks 1941 und 1943. Das Vorbild dieser mutigen Bürgerinnen und Bürger gründet auf eine jahrhundertelange niederländische Tradition der Freiheit - eine Tradition, wie sie in der Inschrift am Denkmal des niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza in Amsterdam zum Ausdruck kommt. Darin heißt es: „Das Ziel des Staates ist Freiheit."

Heute sind die Niederlande ein Land, das sich weltweit gegen Unterdrückung und für Frieden und Freiheit einsetzt. Kaum eine Stadt veranschaulicht das mehr als Den Haag, die Stadt des Rechts, des Sitzes des Internationalen Gerichtshofs und des Internationalen Strafgerichtshofs, die Stadt, in der heute der Befreiungstag gefeiert wird.

Meine Damen und Herren, so grundverschieden die Ausgangslage und die Konsequenzen natürlich sind, so wenig kann gleichwohl das Thema Freiheit heute, im Jahr 2021, behandelt werden, ohne auch daran zu denken, dass derzeit wegen der Coronavirus-Pandemie zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg die Grundfreiheiten unseres Lebens in einem Maße eingeschränkt sind, wie das vor der Pandemie außerhalb unserer Vorstellungskraft lag. Dabei wissen wir, dass solche Maßnahmen nur dann vertretbar sind, wenn sie zeitlich befristet sind und wenn sie nachvollziehbar auf einem Verständnis von Freiheit gründen, das immer Freiheit in Verantwortung meint, also Freiheit immer auch im Verhältnis zu unseren Mitmenschen sieht - derzeit angesichts der Bedrohung von Gesundheit und Leben durch ein Virus. Kein Land bleibt davon verschont. Doch um diese Bedrohung zu überwinden und damit auch wieder unsere Freiheiten uneingeschränkt leben zu können, können wir auf ein festes Fundament bauen: auf die europäische Solidarität als Ergebnis eines einzigartigen Versöhnungs- und Einigungsprozesses.

Wir Deutsche werden nie vergessen, dass die Niederlande uns nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Zivilisationsbruch der Shoa die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Wir werden immer dankbar dafür sein, dass daraus die deutsch-niederländische Freundschaft erwuchs. Die europäische Einigung war von Anfang an ein Projekt für Frieden und Wohlstand, das nur auf dem Fundament gemeinsamer Werte gelingen konnte und gelingen kann. Wir sind auch heute aufgerufen, unsere Werte mit ganzer Kraft zu verteidigen. Jeder und jede Einzelne kann etwas dazu beitragen, um Demokratie zu wahren, Menschenrechte zu stärken und Schwache zu schützen.

Wie nötig das auch heute ist, das haben uns in Deutschland zuletzt die schrecklichen Anschläge von Kassel, Halle und Hanau gezeigt. Diese Angriffe mahnen uns, dass wir uns als Bürgerinnen und Bürger gegen jede Form von Antisemitismus und Rassismus, gegen jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entschieden wenden müssen.

Unsere beiden Länder arbeiten als Europäer und gute Nachbarn eng zusammen. Wir haben über Jahrzehnte hinweg gemeinsam Krisen gemeistert und Erfolge erzielt. Dafür bin ich zutiefst dankbar. Dabei vergessen wir nie: Vergangenes können wir nicht ungeschehen machen. Daraus die richtigen Lehren zu ziehen, das jedoch können und das müssen wir sehr wohl - für heutige und für künftige Generationen unserer beiden Länder und für ein Europa des Friedens und der Freiheit.

Ich danke Ihnen.
PM/BR

05.05.2021

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